Über die Abwegigkeit eines Okapis

«Was man von hier aus sehen kann» ist die magisch skurrile und komisch wundervolle Geschichte eines kleinen Dorfes im Westerwald. Der/Die Leser*in begleitet die Protagonistin Luise von ihrem 10. Lebensjahr über mehrere Jahre in ihrem Erwachsenwerden bis hin zu ihrem 36. Lebensjahr.

Träumt Luises Grossmutter und engste Bezugsperson Selma von einem Okapi, einem völlig abwegigen Tier, wie es Leky beschreibt, stirbt jemand im Westerwälder Dorf. Konfrontiert mit dem Tod, stockt der ganzen Dorfgemeinschaft den Atem, sobald sie von Selmas folgenschweren Traum erfährt. Das Leben scheint für jeden und jede gleich zu Ende zu sein und so werden versteckte Wahrheiten und bis anhin nur Gedachtes im Angesicht des nahenden Todes erstmals laut ausgesprochen. So wringt zum Beispiel der bis kurz vor Schluss namenlose Optiker jedes Mal nach einer verhängnisvollen Nacht mit sich selbst und seinen Stimmen und versucht, in unzähligen Briefanfängen seine Liebe zu Selma zu gestehen. Doch diese verschwiegene Wahrheit kommt erst an Selmas Sterbebett ans Licht.

Als Luise gerade mal zehn Jahre alt ist, folgt dem Okapitraum das denkbar Tragischste: Luises bester Freund Martin, Sohn des ständig alkoholisierten und gewaltbereiten Palms, kommt bei einem Zugunglück, von dem das kleine Mädchen schrecklicherweise Zeugin wird, ums Leben. Das Leben aller Dorfbewohner*innen völlig erschütternd und auf den Kopf stellend, erzählt Mariana Leky in poetischer Sprache mit viel Nachsicht und Geduld, wie das Dorf diesen schwerwiegenden Verlust verarbeitet – jeder Charakter auf seine ganz eigene Weise. Mit viel Präzision, Wortgewandtheit und Witz erschafft Leky eine Figurenwelt, die einem mit all ihren Macken und Eigenschaften ans Herz wächst.

Kennen und lieben lernen wir all diese Gestalten durch die Augen der Ich-Erzählerin Luise. Diese erzählt den Bestseller Roman aus einer übergeordneten und allwissenden Perspektive in drei Teilen. Im ersten Teil ist Luise zehn Jahre alt, verliert ihren engsten Verbündeten und muss einen Umgang mit Tod und Trauer erlernen. Es folgt einen Abschnitt über das Leben der zweiundzwanzigjährigen Luise, die gerade eine Ausbildung zur Buchhändlerin absolviert. Ergänzt werden diese beiden Teile durch eine Erzählung von Luise, die mitten in ihrem 36. Lebensjahr steckt und endlich «Welt herein lässt», wie es ihr der sich ständig auf Reisen befindende Vater seit klein auf ans Herzen legt.

Für viel Schmunzeln und auch ein wenig Kitsch sorgt eine scheinbar unmögliche Liebesgeschichte zwischen Luise und einem Mönch, der seinen Lebensstandort von Hessen nach Japan verlegt hat. Der buddhistische Frederik mag diese Liebe zunächst nicht absegnen. Zehn Jahre lang schreiben die beiden sich dennoch wöchentlich Briefe, ohne sich jemals wirklich wieder zu sehen oder zu sprechen.

Das Buch handelt also nicht nur vom existenziellen Thema Tod, sondern auch von Liebe, Liebe unter schlechten Vorzeichen, Freundschaft und Ungereimtheiten. Aber all das eben im familiären Rahmen des ungewöhnlichen, überfürsorglichen Dorfs im Westerwald mit der so liebenswerten und gleichwohl tollpatschigen Luise als Protagonistin des Romans.

Eine wundersame, märchenhafte Erzählung, die das Herz wärmt, die Augen durchaus auch mal zum Glänzen bringt und dem/der Leser*in ein Lächeln aufs Gesicht zaubert!

Deliah Walder

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Comments (

2

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  1. Hans Wäsle

    Hallo!
    Ich habe eure Seite empfohlen bekommen und mir gefällt eure Arbeit sehr, sehr gut! Wirklich toll.
    Nun habe ich eine Frage zu „Was man von hier aus sehen kann“: ich habe das Buch noch nicht gelesen und aktuell läuft die Verfilmung in den Kinos. Soll ich mir den Film nun ansehen, oder es lassen und lieber zuerst das Buch lesen?
    Danke und viele Grüsse,
    Hans

    1. deliahflurina

      Lieber Herr Wälse
      Toll, wenn Ihnen unser Blog gefällt! Das freut mich ausserordentlich – vielen Dank für Ihr Kommentar!
      Ich selbst habe den Film noch nicht gesehen, ich habe mir lediglich den Trailer angeguckt. Aufgrund des Trailers habe ich jedoch schon das Gefühl, dass viel der Magie und der Poesie Lekys verloren geht. Ich würde auf jeden Fall empfehlen, zuerst das Buch zu lesen und anschliessend den Film zu schauen! 🙂
      Ich bin gespannt, wie Ihnen die Lektüre gefällt!
      Liebe Grüsse,
      Deliah Walder

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